Univ.-Prof. Dr. Derek Remeš: Online-Vortrag zur Musiktheorie des 18. Jahrhunderts

Zeit: 11. November, 2025 um 16:00 Uhr (45’ Vortrag, 60’ Diskussion)
Link: Bitte wenden Sie sich direkt an derek.remes@tu-dortmund.de, um den Link zu bekommen.
In einem Autograph aus dem Jahr 1745 unterschied J. S. Bach zwischen „fundamentaler Praxis“ und „Lizenz“. Die fundamentale Praxis orientiert sich an der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, während eine Lizenz deren bewusste Abweichung bezeichnet. Bach übernimmt diese Unterscheidung vermutlich von Johann David Heinichen, dem Dresdner Kapellmeister. Heinichen versteht das „Fundament“ als den Kirchenstil, der nur zwei Arten der Dissonanz zulässt: syncopatio und transitus. Jede dieser Kategorien besitzt zwei Unterarten, sodass vier fundamentale dissonante Funktionen entstehen: supersyncopatio, subsyncopatio, supertransitus und subtransitus.
Diese Viergliederung reagiert auf ein zentrales Problem der Generalbasspraxis. Joel Lester kritisierte 1992, dass der Generalbass Akkorde mit identischem Intervallinhalt gleich behandelt und damit nicht zwischen „chord types“ und „chord functions“ unterscheidet. Heinichen war sich dieser Problematik bewusst: Er bemerkt, dass zwei äußerlich gleiche 6/4/3-Akkorde unterschiedliche satztechnische Bedeutung haben können. Mit anderen Worten: Die Ziffern bezeichnen nur den Typ, nicht die Funktion. Jede dissonante Konstellation lässt sich daher einer der vier Grundfunktionen zuordnen oder, analog zu einem sprachlichen Homonym, funktional „umbeugen“.
Die Einsicht, dass Akkordtyp und Funktion nicht identisch sind, ist grundlegend für eine historisch informierte Analyse von Bachs Satztechnik. Sie erklärt, weshalb seine Musik oft „modern“ wirkt: Bach verwendet Lizenzen, die Heinichen dem zeitgenössischen Rezitativstil zuordnete, auch im Kirchen- und Kammerstil. Der Stilwandel des 18. Jahrhunderts lässt sich somit als allmählicher Lizenzwandel deuten. Offen bleibt freilich, wie viele und welche Lizenzen das System insgesamt zulässt—doch je weiter sich das System öffnet, desto instabiler wird das Fundament. Wie ein Turm aus Bauklötzen droht es schließlich einzustürzen…
